Patellaluxation – frühzeitiger Therapiebeginn aus heutiger Sicht empfehlenswert

LESEPROBE aus der SPF 29

Von Dr. Jennifer Nehls

 

Die Patellaluxation ist die häufigste Lahmheitsursache von kleinen Rassen und Zwergrassen, die sich häufig durch das charakteristische Gangbild des Hundes kennzeichnet. In fortgeschrittenen Krankheitsstadien können deutliche Lahmheiten, erhebliche Arthrosen und schwere Fehlbildungen der Knochen entstehen, sodass ein frühzeitiges therapeutisches Eingreifen empfohlen wird. SitzPlatzFuss spricht in einem Interview mit Dr. Jennifer Nehls über die Patellaluxation, die Diagnostik und die therapeutische Versorgung des Hundes.

 

SitzPlatzFuss: Welche Funktion hat die Kniescheibe?

Dr. Nehls: Das Kniegelenk besteht aus dem Kniekehlgelenk, das sich aus Ober- und Unterschenkel zusammensetzt, und dem Kniescheibengelenk, das vom Oberschenkel und der Kniescheibe gebildet wird. Die Kniescheibe, lateinisch Patella, gleitet während der Bewegung des Hundes wie ein Schlitten über den Oberschenkel und wird seitlich von zwei Rollkämmen, die vom Oberschenkel gebildet werden, begrenzt. Die Kniescheibe ist das größte Sesambein des Hundes, dabei handelt es sich um einen kleinen Knochen im Bereich eines Gelenks, in den eine wichtige Sehne eingebettet ist. Das Sesambein schützt die Sehne beim Verlauf über das Gelenk vor erhöhtem Druck durch die gelenkbildenden Knochen und optimiert zugleich die biomechanische Wirkung der Sehne durch eine Hebelwirkung.

 

SitzPlatzFuss: Was passiert bei einer Patellaluxation?

Dr. Nehls: Die Patellaluxation ist eine vorübergehende oder dauerhaft bestehende Verlagerung der Kniescheibe, bei der die Kniescheibe über die seitliche Begrenzung, die durch die beiden Rollkämme gebildet wird, hinausgleitet. Je nachdem, zu welcher Seite die Kniescheibe luxiert, unterscheiden Tierärzte eine mediale Luxation, bei der sich die Kniescheibe zur Körpermitte hin verlagert, von einer lateralen Luxation, bei der sich die Kniescheibe zur äußeren Seite hin verlagert. Darüber hinaus differenzieren Mediziner zwischen einer angeborenen Form, die genetisch bedingt ist, und einer erworbenen Luxation.

Anders als die angeborene Patellaluxation, die ein- oder beidseitig lokalisiert ist und häufig bei jungen Hunden im Wachstum auftritt, wird die erworbene Form durch einen Unfall verursacht oder durch eine andere orthopädische Erkrankung begünstigt. Sie tritt meist einseitig auf und geht posttraumatisch mit einer akut auftretenden Lahmheit einher. Eine Hüftgelenksluxation (HD), die zu einer Außendrehung des Oberschenkels führt, und der Riss des vorderen Kreuzbands, der mit einer vermehrten Innendrehung des Schienbeins einhergeht, begünstigen zum Beispiel das Auftreten einer medialen erworbenen Patellaluxation.

 

SitzPlatzFuss: Welche Hunde sind von einer medialen Patellaluxation betroffen?

Dr. Nehls: Die mediale Patellaluxation tritt gehäuft bei Hunden im Wachstum in einem Alter zwischen drei und sechs Monaten auf, wobei Hunde jeden Alters, unabhängig vom Geschlecht, betroffen sein können. Sie kann bei jeder Hunderasse diagnostiziert werden, wenngleich sie bei kleinen Hunderassen und Zwergrassen gehäuft auftritt und sogar die häufigste Lahmheitsursache darstellt. Große Rassen sind insgesamt seltener betroffen, wobei eine Verlagerung der Kniescheibe nach medial bei ihnen ebenfalls häufiger auftritt als eine Luxation nach lateral.

 

SitzPlatzFuss: Was sind die typischen Symptome?

Dr. Nehls: Hunde mit einer Patellaluxation ersten Grades zeigen keine Lahmheit, sodass die Diagnose meist nur einen Zufallsbefund im Rahmen einer klinischen Untersuchung des Hundes darstellt. Bei einer Luxation zweiten Grades beobachten die Besitzer eine vorübergehende Lahmheit, die mit Unterbrechungen immer wieder auftritt. Die Hunde halten das betroffene Bein meist für ein oder zwei Schritte in angewinkelter Position, ohne es zu belasten, und laufen danach ohne eine Auffälligkeit des Gangbilds, das heißt lahmfrei, weiter. Zeigt sich eine Veränderung dritten Grades, wird diese Symptomatik phasenweise von deutlichen Lahmheiten begleitet. Hunde mit einer Patellaluxation vierten Grades können die Kniegelenke nicht vollständig strecken; sie bewegen sich dauerhaft mit leicht gebeugten Hinterbeinen fort.

 

SitzPlatzFuss: Können Sie mir bitte mehr über die erwähnte Gradeinteilung der Patellaluxation erzählen?

Dr. Nehls: Bei der Patellaluxation unterscheiden Tierärzte vier verschiedene Grade der Erkrankung, die sowohl therapeutisch als auch prognostisch von Bedeutung sind und im Rahmen der Tastuntersuchung des Kniegelenks eruiert werden.

Beim Grad I tritt die spontane Luxation der Kniescheibe während der Bewegung des Hundes nur selten auf. Die Knieschiebe, die sich bei einem gesunden Gelenk nicht luxieren lässt, kann bei der Untersuchung des Kniegelenks luxiert werden und gleitet spontan wieder in ihre physiologische Position zurück.

Beim Grad II können leichte Deformationen des Oberschenkels auffallen. Die Kniescheibe lässt sich durch seitlichen Druck oder eine Beugung des Kniegelenks luxieren und verbleibt so lange in dieser Position, bis sie spontan durch die Bewegung des Hundes oder manuell durch den Tierarzt zurückverlagert wird.

Beim Grad III ist die Kniescheibe meist dauerhaft verlagert. Sie kann manuell durch den Tierarzt in ihre physiologische Position innerhalb des Rollkamms zurückverlagert werden, luxiert aber bei einer erneuten Beugung oder Streckung des Gelenks sofort wieder. Fehlbildungen von Ober- und Unterschenkel sowie Veränderungen der Muskulatur sind möglich.

Beim Grad IV ist die Kniescheibe dauerhaft luxiert, ohne dass sie manuell durch den Tierarzt in ihre physiologische Lage gebracht werden kann. Die Fehlbildungen von Ober- und Unterschenkel sowie der Muskulatur sind deutlich ausgeprägt.

 

SitzPlatzFuss: Was verursacht die Lahmheit bei einer Patellaluxation, ist es immer der Schmerz?

Dr. Nehls: Bei einer geringgradigen medialen Patellaluxation entstehen die Symptome dadurch, dass der Streckmechanismus des Kniegelenks gestört ist. Der Bewegungsstörung liegt in dieser Phase eine mechanische Problematik zugrunde.

Werden die Hunde erst im fortgeschrittenen Krankheitsstadium, meist im Alter von ein bis drei Jahren, beim Tierarzt vorgestellt, verstärken bereits Arthrosen, die sich infolge der Luxation am Oberschenkel und der Kniescheibe gebildet haben, die Beschwerden. Die Lahmheitssymptomatik kann zudem durch die knöchernen Fehlbildungen verstärkt werden, die sich bei höhergradigen Patellaluxationen entwickeln. Eine anhaltende oder hochgradige Lahmheit wird nur bei schwerer Ausprägung der Erkrankung beobachtet.

Bei älteren Hunden, die unter einer medialen Patellaluxation und einer akuten Lahmheit leiden, wird die Symptomatik – sofern sie nicht durch eine akute traumatische Luxation verursacht wird, meist nicht durch die jahrelang bestehende Luxation verursacht, sondern häufiger durch zusätzliche orthopädische Erkrankungen, zum Beispiel von Hüfte, Knie oder Rücken.

 

SitzPlatzFuss: Wie stellt der Tierarzt die Diagnose?

Dr. Nehls: Der Verdacht auf eine Patellaluxation, der anhand des Vorberichts besteht, kann durch eine Beurteilung des Gangbilds und eine Untersuchung des Kniegelenks, bei der sich die Patella nach medial verlagern lässt, bestätigt werden. Bei stärkerer Ausprägung und beidseitiger Ausbildung der Patellaluxation entwickeln die Hunde eine typische O-Beinigkeit der Hinterbeine.

Zusätzlich zur Gangbildanalyse und zur Tastuntersuchung des Kniegelenks empfiehlt der Tierarzt häufig Röntgenaufnahmen oder in selteneren Fällen eine Computertomografie des Kniegelenks, um das Ausmaß der durch die Patellaluxation entstandenen Arthrosen und der anatomischen Fehlstellungen von Ober- und Unterschenkel besser beurteilen zu können. Diese weiterführenden Untersuchungen sind in Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung für die chirurgische Versorgung der Patellaluxation empfehlenswert.

Obwohl die Symptomatik in Kombination mit dem Tastbefund des Kniegelenks bereits relativ deutlich auf eine Patellaluxation hinweist, muss der Tierarzt andere Erkrankungen ausschließen, die mit einer ähnlichen Symptomatik einhergehen können und zusätzlich zur Patellaluxation bestehen können. Dazu gehören zum Beispiel eine Bänderzerrung des Kniegelenks, eine Muskelzerrung, eine Hüftgelenksluxation infolge einer Hüftgelenksdysplasie (HD) sowie Morbus Legg-Calvé-Perthes, eine Erkrankung, die aufgrund einer mangelnden Blutversorgung mit einem Gewebstod des Oberschenkelkopfs einhergeht. Es ist wichtig zu wissen, dass Hunde mit einer Patellaluxation häufig zusätzlich unter einer Hüftgelenksdysplasie oder einem Morbus Legg-Calvé-Perthes leiden, sodass eine gründliche Untersuchung der Hüfte empfehlenswert ist.

 

SitzPlatzFuss: Welche Therapie ist sinnvoll?

Dr. Nehls: Heutzutage ist ein frühzeitiger chirurgischer Eingriff in Kombination mit einer balancierten Schmerztherapie empfehlenswert, da die Erkrankung zu einem frühzeitigen Abnutzen des Gelenkknorpels mit der Ausbildung schmerzhafter Arthrosen führt und in fortgeschrittenen Fällen mit schweren Fehlbildungen der Knochen einhergehen kann. Bei Junghunden im Wachstum, die eine Lahmheit zeigen, ist die chirurgische Therapie besonders wichtig, da Fehlbildungen in dieser Phase besonders rasch voranschreiten. Chirurgisch stehen verschiedene Operationsmethoden zur Verfügung, wobei der Chirurg in Abhängigkeit vom Untersuchungsbefund die beste Methode für den individuellen Patienten auswählt. Nach der Operation sollten unkontrollierte Bewegungen des Hundes zunächst für sechs Wochen strikt vermieden werden. Das gewissenhafte Führen an der Leine, das leider oftmals nicht konsequent vom Besitzer eingehalten wird, ist für einen Therapieerfolg aber essenziell.

 

SitzPlatzFuss: Sie haben den Begriff balancierte Schmerztherapie verwendet. Was meinen Sie damit?

Dr. Nehls: Im Gegensatz zu einer klassischen Schmerztherapie, bei der der Hund nur ein Schmerzmittel erhält, kommen bei der balancierten Schmerztherapie mehrere schmerzlindernde Methoden zum Einsatz, die auf unterschiedliche Weise in die Schmerzentstehung eingreifen. Ziel ist es, den Therapieerfolg zu erhöhen, gleichzeitig aber die Dosierung des Schmerzmittels zu senken und somit das Risiko von Nebenwirkungen zu reduzieren. Bei der balancierten Schmerztherapie können verschiedene Schmerzmittel miteinander kombiniert werden, es besteht aber auch die Möglichkeit, ein Schmerzmittel zu verabreichen und zusätzliche schmerzlindernde alternative Methoden oder diätische Maßnahmen anzuwenden.

Bei einer Patellaluxation ist zusätzlich zum klassischen Schmerzmittel eine Kombination aus Chirurgie, Physiotherapie, physikalischer Therapie sowie der Verabreichung eines Ergänzungsfuttermittels empfehlenswert, das sich aufgrund seiner Inhaltsstoffe positiv auf die Gelenkgesundheit auswirkt. Mögliche Inhaltsstoffe des Ergänzungsfuttermittels sind zum Beispiel Glukosamine, Glykosaminoglykane, Chondroitinsulfat, Hyaluronsäure, Grünlippenmuschelextrakt, Omega-3-Fettsäuren, Vitamin C, Vitamin E, Kupfer, Zink, Mangan, Selen oder Teufelskralle. Als Ergänzungsfuttermittel bieten sich spezielle Produkte vom Tierarzt an, da ihre Inhaltsstoffe höher dosiert sind als in Produkten, die im Futterhandel oder Internet erworben werden können.

Eine regelmäßige Physiotherapie ist im Rahmen einer balancierten Schmerztherapie empfehlenswert. Sie dient als Schmerztherapie und optimiert zugleich die Nährstoffversorgung und die Beweglichkeit der Gelenke. Darüber hinaus können die durch die Fehlhaltung verkürzten Muskeln und Bänder gedehnt und die verspannten Muskeln gelockert werden. Eine aktive Bewegungstherapie fördert den Muskelaufbau. Der Hund muss zum Beispiel gezielt bergauf oder Slalom gehen, ein Cavalettitraining absolvieren oder Gewichtsmanschetten tragen – alles dosiert und gezielt unter therapeutischer Anleitung.

Weitere alternative Therapien, die ergänzend zur chirurgischen Versorgung der Patellaluxation und zur klassischen Schmerztherapie infrage kommen, sind beispielsweise Akupunktur, Goldimplantation, Homöopathie oder Neuraltherapie. Übergewichtige Hunde sollten eine gezielte Diät zur Gewichtsreduktion erhalten, um die Belastung des erkrankten Gelenks durch ein zu hohes Körpergewicht zu senken. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch eine strikte Einschränkung von Leckerlis, die zwischendurch gefüttert werden. Am besten ist es für übergewichtige Hunde, vollständig darauf zu verzichten.

 

SitzPlatzFuss: Wie ist die Prognose für die Hunde?

Dr. Nehls: Die Prognose chirurgisch versorgter Hunde mit einer Luxation ersten bis dritten Grades ist sehr gut. Trotz Wiederherstellung einer physiologischen Funktion des Kniegelenks ist aber mit einem Fortschreiten der bereits bestehenden arthrotischen Gelenkveränderungen, die durch die Kniescheibenverlagerung entstanden sind, zu rechnen. Bei Hunden mit einer Luxation vierten Grades ist die Prognose aufgrund der erheblichen Fehlbildungen vorsichtig. Haben die Hunde eine beidseitige Luxation vierten Grades, sind oftmals mehrere chirurgische Eingriffe notwendig, wobei auch nach erfolgreichen Operationen weiterhin eine Lahmheit bestehen kann. Die Fehlbildungen der Knochen sind in diesem Stadium bereits massiv ausgebildet, sodass die Lahmheit rein mechanisch bestehen bleiben kann.

 

SitzPlatzFuss: Sprechen wir noch einmal kurz über die eingangs erwähnte laterale Patellaluxation. Welche Hunde sind betroffen und was für eine Symptomatik zeigen sie?

Dr. Nehls: Eine Verlagerung der Kniescheibe zur äußeren Seite tritt gehäuft bei großen Hunderassen auf und nur selten bei kleinen Rassen oder Zwergrassen. Die betroffenen Hunde können jeden Alters und Geschlechts sein. Die Symptome sind mit denen einer medialen Patellaluxation vergleichbar.

 

SitzPlatzFuss: Wie wird hierbei die Diagnose gestellt?

Dr. Nehls: Die Diagnostik und die Gradeinteilung der Luxation erfolgen wie bei einer medialen Patellaluxation, lediglich die Position der verlagerten Kniescheibe ist unterschiedlich, da sich die Kniescheibe zur äußeren Seite des Kniegelenks verlagert. Anders als bei der medialen Luxation entwickeln die Hunde bei stärkerer Ausprägung keine O-Beinigkeit, sondern eine X-Beinigkeit der Hinterbeine.

Im Rahmen der Diagnostik ist zum Beispiel abzuklären, ob der Hund eine Hüftgelenksdysplasie (HD), eine Knochenschuppe (OCD) im Knie- oder Sprunggelenk, einen Kreuzbandriss, Verletzungen im Bereich der Wachstumsfugen, eine Entzündung der langen Röhrenknochen oder eine Muskelzerrung hat. Hunde, die unter einer lateralen Patellaluxation leiden, haben häufig auch eine Hüftgelenksdysplasie, die die Beschwerden verschlechtern kann.

 

SitzPlatzFuss: Welche Therapie ist sinnvoll und wie ist die Prognose des Hundes?

Dr. Nehls: Auch hier ist ein frühzeitiges chirurgisches Eingreifen in Kombination mit einer multimodalen Schmerztherapie empfehlenswert. Die Auswahl der Operationsmethode trifft der Chirurg individuell. Nach der Operation ist eine strikte Bewegungseinschränkung für eine Dauer von sechs Wochen erforderlich. Die Hunde sollten in dieser Phase kontrolliert an der Leine geführt werden und eine physiotherapeutische Behandlung erhalten.

Die Prognose, die je nach Luxationsgrad variiert, ist mit der einer medialen Verlagerung vergleichbar, aber nicht ganz so gut. Bei einer lateralen Patellaluxation vierten Grades ist die Prognose ebenfalls vorsichtig.

 

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