Das Vestibularsyndrom

Akut dramatisch, aber gut zu behandeln: Vor allem Senioren sind betroffen

+++ LESEPROBE aus der SPF Sonderausgabe Hundesenioren +++

Von Kerstin Piribauer

 

Eines Tages wird uns auffallen, dass sich der beste Freund an unserer Seite fast unmerklich verändert. Er schläft vielleicht mehr, geht den Alltag ein bisschen langsamer an – und die ein oder andere Charaktereigenschaft, die wir über die Jahre hinweg lieb gewonnen haben, verstärkt sich. Unser vierbeiniger Partner wird älter, und in ebenso ruhiger wie entspannter Atmosphäre verbringen wir mit ihm seinen Lebensabend. Und dann plötzlich ist die Welt innerhalb weniger Sekunden verändert. Wie aus dem Nichts können eine Reihe verschiedener Symptome auftreten: Dem Hund scheint plötzlich schwindlig zu sein, zeigt ein unkoordiniertes Gangbild und hat Gleichgewichtsprobleme. Möglicherweise zittert er oder erbricht und zeigt eine nicht zu übersehende Kopfschiefhaltung. Innerhalb kürzester Zeit hat sich ein Vestibularsyndrom entwickelt, ein Mix von Symptomen, die insbesondere ältere Hunde treffen können.

Wenn der Hund das Gleichgewicht verliert
Die Symptome, die zum Vestibularsyndrom gehören, können in unterschiedlicher Intensität in ihrer gesamten Bandbreite auftreten. Genauso kann unser vierbeiniger Partner aber auch nur von einzelnen dieser Symptome betroffen sein, die auf einer Fehlfunktion des Gleichgewichtsapparats oder seiner Vernetzung im Gehirn basieren. Wie beim Menschen nimmt dabei auch beim Hund das Innenohr als Sitz des Gleichgewichts die zentrale Position ein. Vom Innenohr aus erhält das Gehirn alle notwendigen Informationen über die Position und Orientierung des Körpers in der dreidimensionalen räumlichen Umgebung. Alle Bewegungen werden darauf abgestimmt gesteuert. Ist der Informationsfluss vom Innenohr ins Gehirn unterbrochen oder beeinträchtigt, kann dieser Prozess nicht mehr in seiner gewohnten physiologischen Form ablaufen: Das Gehirn kann die Bewegungen des Organismus in der dreidimensionalen Umgebung nicht mehr koordinieren, und es kommt zu jener charakteristischen Mischung von Symptomen, die zum Vestibularsyndrom gehören. Der Hund scheint desorientiert und driftet mit einem deutlich unkoordinierten Gangbild in die Richtung ab, in die auch die Kopfschiefhaltung zeigt. Er leidet ganz offensichtlich unter einem unangenehmen Schwindelgefühl und muss eventuell erbrechen. Darüber hinaus sind oft unkontrollierte, ruckartige Augenbewegungen erkennbar, die in der medizinischen Fachsprache als Nystagmus bezeichnet werden. Manche Hunde schielen plötzlich, insbesondere in der neurologischen Untersuchung, wenn der Kopf im Rahmen der notwendigen Tests in den Nacken überstreckt wird. All diese Probleme können in unterschiedlicher Intensität auftreten und durchaus von einigen Individuen auch mehr oder weniger gut kompensiert werden. Charakteristisch und weit häufiger aber ist das unvermittelt auftretende gravierende Krankheitsbild: Innerhalb weniger Sekunden kann sich der soeben noch vollkommen entspannte und ruhige Hund kaum mehr geradeaus fortbewegen.

 

Foto: shutterstock/Bonsales

 

 

 

 

Wie bleibt der Organismus im Gleichgewicht? Warum gerade diese Symptome?
Das Vestibularorgan im Innenohr leitet kontinuierlich Informationen über die Position des Körpers im Raum an das Zentralnervensystem weiter. Dabei werden über die Gleichgewichtsnerven Impulse zu den Vestibulariskernen im Hirnstamm geleitet. Diese kommunizieren nun mit weiteren Systemen des Organismus, beispielsweise mit den Nerven der Augenmuskeln: Die Informationsübertragung einer Kopfdrehung beispielsweise ermöglicht normalerweise trotz veränderter Perspektive das Fixieren eines ruhenden Objekts. Bleiben die Informationen aus dem Gleichgewichtsapparat aber aus, kommt es zum charakteristischen Zucken der Augen, dem für das Vestibularsyndrom typischen Nystagmus. Weil den Vestibulariskernen auch die aus dem Innenohr kommenden Informationen über die Stellung des Kopfes und seine räumliche Orientierung fehlen, entsteht eine Kopfschiefhaltung – mit einer deutlichen Neigung des Kopfes zu der Körperseite hin, an der die ursächliche Problematik für das Vestibularsyndrom liegt, da die Vestibulariskerne auf dieser Seite weniger erregt werden. Darüber hinaus kommunizieren die Vestibulariskerne mit dem Rückenmark und der Muskulatur der Gliedmaßen. Dabei vermitteln ihre Impulse den Streckmuskeln die Informationen, welche Bewegungen notwendig sind, um sich den räumlichen Verhältnissen anzupassen. Ohne diese Informationen können die Bewegungen nicht angemessen koordiniert werden. Schließlich stehen die Vestibulariskerne in Verbindung mit dem im Gehirn angesiedelten Brechzentrum, was bei außergewöhnlich schnellen und heftigen Kopfbewegungen oder einer zu starken Erregung des Vestibularapparats Übelkeit signalisiert und Erbrechen verursacht.

Das Vestibularsyndrom ist kein Schlaganfall und kein Grund zur Euthanasie!
Das Erschrecken des Besitzers ist groß in dieser Situation – und die beiden meist zuerst beinahe reflexartig auftretenden Gedanken sind mit einem klaren Nein zu beantworten. Nein, das Vestibularsyndrom ist kein Schlaganfall! Und nein, das Vestibularsyndrom ist kein Grund, den Hund unmittelbar zu euthanasieren! Man kann beides nicht oft genug wiederholen. Die Symptome mögen noch so sehr an die menschliche Problematik eines Schlaganfalls erinnern, und tatsächlich nutzen auch einige Tierärzte in einer für den Patientenbesitzer vereinfachten Sprache diesen Begriff, aber eine Gleichsetzung ist definitiv falsch! Ein Schlaganfall basiert ursächlich auf Durchblutungsstörungen im Gehirn, die zum Absterben von Gehirnzellen führen. Das geschieht beim Vestibularsyndrom definitiv nicht! Und die Symptomatik mag sich insbesondere im ersten Moment noch so erschreckend und massiv darstellen, das Vestibularsyndrom an sich stellt auch absolut keinen Grund dafür dar, den betroffenen Patienten sofort vermeintlich erlösen zu müssen. Die Mär vom „unerträglichen Leid“ und von der „Erlösung als letztem Liebesdienst“ greift hier ebenso wenig wie in vielen anderen Situationen im Umgang mit dem kranken Hund. Der Hund benötigt nun eine gezielte Therapie der akuten Symptomatik sowie eine zielführende Diagnostik, damit die Ursache des Vestibularsyndroms gefunden wird. Eine unmittelbar einsetzende Therapie kann in vielen Fällen schon innerhalb weniger Stunden oder Tage zu einer deutlichen Verbesserung der Symptomatik führen, was insbesondere für das sogenannte geriatrische Vestibularsyndrom des älteren Patienten gilt. Die meisten Symptome verschwinden innerhalb von zwei bis drei Wochen vollkommen. Das häufigste Problem, das möglicherweise nicht mehr vollkommen ausheilt, ist eine leichte Kopfschiefhaltung, die den Hund in seiner Lebensqualität aber nicht weiter beeinträchtigt.

Mögliche Ursachen des Vestibularsyndroms erfordern umfassende Diagnostik

Prinzipiell kann das Vestibularsyndrom in Abhängigkeit von der Ursache der Problematik in unterschiedlichen Formen auftreten: als zentrales Vestibularsyndrom oder weit häufiger als peripheres Vestibularsyndrom. Bei letzterem basieren die Symptome auf krankhaften Prozessen im Bereich des Innenohrs. Dabei kann es sich zum Beispiel um Mittel- oder Innenohrentzündungen, Polypen, um ein sogenanntes Cholesteatom (s. Fallbericht) oder in seltensten Fällen auch um Tumoren handeln. Jede inkonsequent behandelte Ohrentzündung birgt hier entsprechende Risiken! Auch Medikamentenunverträglichkeiten, wie infolge bestimmter Antibiotika oder Bestandteile einiger Ohrreiniger wie Chlorhexidin, können ursächlich sein. Ebenso können genetisch bedingte und zumeist angeborene Fehlbildungen oder degenerative Prozesse des alternden Individuums den Bereich des Innenohrs verändern und so zur peripheren Form des Vestibularsyndroms führen. Auch eine Schilddrüsenunterfunktion muss als Ursache für die Symptome in Betracht gezogen und diagnostisch abgeklärt werden.
Beim zentralen Vestibularsyndrom hingegen entstehen die gleichen Symptome durch krankhafte Veränderungen im Zentralnervensystem, beispielsweise bei Entzündungen oder Tumoren der Hirnhäute oder verschiedenen Infektionserkrankungen wie etwa Staupe.
Ältere @Hunde, die weit häufiger vom Vestibularsyndrom betroffen sind als jüngere Tiere, leiden oft unter einer vermutlich degenerativ bedingten Form, die als geriatrisches Vestibularsyndrom bezeichnet wird – oder auch als idiopathisches Vestibularsyndrom, da die eigentlichen Ursachen für diesen Prozess in der medizinischen Forschung noch nicht eindeutig geklärt werden konnten. Eventuell handelt es sich um eine Störung des Lymphflusses, aber auch ein immunologisches Geschehen wird als möglicher Auslöser in der Wissenschaft diskutiert.
Diese Vielzahl denkbarer Ursachen erfordert eine umfassende Diagnostik, an deren Beginn immer eine vollständige klinisch-neurologische Untersuchung des Patienten steht. Diese Untersuchung gibt den entscheidenden Hinweis, wo der Ursprung des Problems zu lokalisieren ist, ob es sich also um ein peripheres oder ein zentrales Vestibularsyndrom handelt. Die Krankengeschichte, insbesondere in Bezug auf außergewöhnlichen Juckreiz und zurückliegende Ohrentzündungen oder auch eine offensichtliche Entzündung des äußeren Gehörgangs, legen den Verdacht einer tiefer liegenden Mittel- oder Innenohrentzündung mit möglichen Komplikationen nahe. Eine CT-Untersuchung ist hier zumeist angezeigt, um einen genaueren Überblick über die Ausweitung des pathologischen Prozesses zu bekommen. Beim Verdacht auf ein zentrales Vestibularsyndrom ist eine Magnetresonanztomografie (MRT) das diagnostische Mittel der Wahl, da nur hier die Hirnregionen so dargestellt werden können, dass am Ende eine klare diagnostische Aussage möglich ist. In Blutuntersuchungen werden weitere Fragestellungen zu möglichen infektiösen Ursachen oder auch einer eventuellen Schilddrüsenunterfunktion beantwortet.
Die weitere Prognose hängt nun großteils von der ursächlichen Erkrankung ab. Auch schwerwiegende Entzündungen können nach entsprechender Therapie problemlos ausheilen, während die Prognose für einen von einem Tumor betroffenen Patienten durchaus schlechter sein kann.
Die Diagnose des geriatrischen Vestibularsyndroms wird insbesondere entsprechend der Symptome und des Alters des Patienten gestellt und ist letztlich immer eine Ausschlussdiagnostik. Ohrentzündungen und damit zusammenhängende Komplikationen, Tumoren und Infektionskrankheiten sollten als Ursache der Problematik jedenfalls ausgeschlossen werden.

 

Umfeld als wesentlicher Teil der Therapie beim geriatrischen Vestibularsyndrom

Grundsätzlich richtet sich die Therapie des Vestibularsyndroms selbstverständlich nach der Ursache der Symptome. Entzündungen werden zunächst medikamentös behandelt, bevor möglicherweise eine Operation notwendig wird. Tumoren sollten einer spezifischen onkologischen Therapie unterzogen werden, eine Schilddrüsenunterfunktion würde entsprechend medikamentös zu behandeln sein. Wenn sich keine unmittelbare Ursache finden lässt, was bei unseren Senioren häufig vorkommt, erfolgt eine symptomatische Therapie, die in den weitaus meisten Fällen erfolgreich ist und nach wenigen Wochen wieder die gewohnte Lebensqualität garantiert. Der Tierarzt wird verschiedene Medikamente, möglicherweise in Form von Infusionen, verabreichen. Eine an Antioxidantien und essenziellen Fettsäuren reichhaltige Ernährung unterstützt den Senior wie im gesamten Alterungsprozess auch jetzt in der Phase der Regeneration und Erholung. Die Pflege des Patienten kann in den ersten Tagen durchaus herausfordernd sein. Aufgrund des Schwindelgefühls ist oft vorübergehend keine normale Nahrungsaufnahme aus der Schüssel möglich, sondern eine Handfütterung erforderlich. Auch die übliche Gassirunde kann durchaus zur Herausforderung werden. All diese Beeinträchtigungen aber bessern sich zumeist bereits nach wenigen Tagen.
Einen wesentlichen und nicht zu unterschätzenden Faktor in der Therapie stellt die häusliche Umgebung dar. Ruhe ist das oberste Gebot! Den Hund liebevoll hochzuheben sollte weitgehendst vermieden werden, denn Bodenkontakt ermöglicht dem Patienten eine bessere Orientierung und verleiht Stabilität. Die Umgebung des Hundes sollte zudem auf mögliche Verletzungsgefahren hin abgesucht werden, und selbstverständlich gilt es, den Hund beim Spaziergang bestmöglich zu unterstützen und mit einer Leine zu sichern. Medikamentengabe und Pflegemaßnahmen dürfen ausschließlich nach Rücksprache mit dem Tierarzt erfolgen.
Beim geriatrischen Vestibularsyndrom ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Senior dank dieser Maßnahmen wieder vollständig gesund wird. Damit dies auch künftig so bleibt und die vor allem in den ersten Stunden für alle Beteiligten dramatische Situation sich nicht wiederholt, sollten allerdings einige Vorsichtsmaßnahmen eingehalten werden: Die regelmäßige Ohrpflege darf ausschließlich mit Reinigern und Medikamenten erfolgen, die vom Tierarzt freigegeben wurden. Zur Sicherheit sollten Ohrreiniger bei der Anwendung nicht zu kühl sein und zuvor eventuell leicht erwärmt werden. Flugreisen und Bergtouren sind für betroffene Senioren tabu! Es gibt ausreichend Möglichkeiten, die gemeinsame Zeit mit unserem alternden Partner anderweitig entspannt und stressfrei zu verbringen.

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Den gesamten Artikel könnt ihr in der SPF Sonderausgabe Hundesenioren lesen, bestellbar im Cadmos-Shop.

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