Bindung und Halt geben

Von Mirjam Cordt

+++ LESEPROBE aus der SPF 27 +++

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Geben Sie Ihrem Hund Halt – erst recht, wenn er sich ungehalten verhält.

Ein überdrehter, ein schnell gereizter oder ein aggressiver Hund ist in allererster Linie ungehalten. Und das in zweierlei Hinsicht: ungehalten nicht nur in seinem Verhalten, sondern auch ungehalten im übertragenen Sinne. Der Hund fühlt sich in für ihn schwierigen Situationen allein gelassen und auf sich gestellt. Er erfährt keinen Halt – weder in sich selbst noch durch seine Vertrauenspersonen und Bindungspartner. Der Hundebesitzer sollte im übertragenen Sinn zum „Halter“ seines Hundes werden, indem er ihm Stabilität und Halt vermittelt, damit der Hund gestärkt und gefestigt wird.

 

Damit kommt dem Aufbau einer sicheren Bindung eine besondere Bedeutung zu, wenn es darum geht, unerwünschte, ungehaltene Verhaltensweisen zu beeinflussen.

Wer mit einem Lebewesen Kontakt aufnimmt, tritt mit ihm in Beziehung, wobei zunächst noch nichts darüber ausgesagt ist, um welche Art von Beziehung es sich handelt oder welche Qualität diese Beziehung aufweist.

Oft wird nur der ungehaltene Moment im Verhalten des Hundes gesehen. Er wird als unerzogen oder aggressiv abgestempelt, und es wird mit fragwürdigen Methoden versucht, ihn zu bezwingen. Viele Trainingsratschläge zum Umgang mit ungehaltenen Hunden basieren leider immer noch auf der Herrschaftsausrichtung, die nur Sieger und Besiegte kennt. In der Herrschaftsbeziehung sieht der Mensch jegliches unerwünschte Verhalten seines Hundes pauschal als „dominant“ und als Schlag gegen sich. Er fühlt sich persönlich infrage gestellt, da er sich in seiner Vorstellung als „Boss“ und „Alphatier“ keine Schwäche und Nachgiebigkeit leisten darf und aus jeder Interaktion mit dem Hund als Sieger hervorzugehen hat.

Je mehr der Mensch um seinen „Sieg“ kämpft, umso offensiver wird er seine Forderungen zum Ausdruck bringen und dabei entsprechend gewaltvoll und für den Hund bewusst einschüchternd auftreten. Verständlich, dass sich hierbei der Hund in die Ecke gedrängt fühlt und sich irgendwann wehrt – reine Notwehr! Je größer die Herrschaftsausrichtung des Menschen in einer konflikthaften Interaktion ist, desto größer ist das Eskalationsrisiko.

Vertritt man die Herrschaftsausrichtung, so können nur alle Beteiligten in diesem „Machtkampf“ verlieren. Der Mensch zeigt sich in einem ausgesprochen unguten Licht und stellt sich ein Armutszeugnis hinsichtlich „Fürsorgepflichtiger“ aus. Sich nicht in einen Machtkampf verwickeln zu lassen, ist aber keinesfalls dahingehend zu verstehen, dass man sich alles gefallen lassen sollte.

 

Bindung Mensch – Hund

Die Beziehung zwischen Mensch und Hund hat weitreichende Auswirkungen auf das Verhalten des Hundes, auf seine Alltagsbewältigung und sein Wohlbefinden. Mensch und Hund ähneln sich auffällig in ihren Gefühlen und ihrem Wunsch nach Bindung, und auch die Ähnlichkeit zwischen dem Bindungssystem Mensch – Hund und Eltern – Kind ist erstaunlich.

Die Tragweite der Bindung als soziales Beziehungsgefüge wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass die wichtigsten Erfahrungen, die ein sozial organisiertes Lebewesen im Lauf seines Lebens macht, psychosozialer Natur sind. Bei allen sozial organisierten Säugetieren – ob Hund, Mensch, Kuh, Schwein und weitere Geschöpfe – gilt der psychosoziale Konflikt als wichtigste und häufigste Ursache für die Aktivierung der Stressreaktion.

Wer Stress hat, verhält sich schneller ungehalten. Wer ein Problemverhalten des Hundes wirksam und nachhaltig beeinflussen will, kommt nicht umhin, aktiv Bindungsarbeit zu betreiben.

 

Die sichere Basis und der sichere Hafen

Kennen Sie nicht auch das beruhigende Gefühl, einen Vertrauten im Rücken zu wissen, auf den Sie zählen können? Wie viel leichter fällt es so, auch zunächst Befremdlichem zu begegnen!

Was für ein trauriger Umstand, wenn niemand zu Hilfe gerufen werden kann, der verlässlich alles unternehmen wird, eine Gefahr zu bannen. Dem sicheren Rückhalt kommt also eine existenzielle Bedeutung zu. Das macht deutlich, wie sträflich der Ratschlag ist, seinen Hund in seiner Bedrängnis allein zu lassen, um ihn angeblich nicht in seinen Ängsten zu bestätigen. Zeigen Sie ihm Ihre Zuneigung und lassen Sie ihn nicht gerade dann im Stich, wenn er Sie am nötigsten braucht! Sie dürfen ihm getrost „die Pfote halten“, wenn er Sicherheit und Schutz braucht. Geben Sie ihm Halt, damit er nicht haltlos wird.

 

Alles nur Bindung – oder was?

Selbstverständlich gibt es auch unabhängig von der Bindung Gründe, weshalb ein Hund sich ungehalten und aggressiv gegenüber seinem Besitzer und anderen Personen verhalten und die Gemeinschaft störende Verhaltensweisen zeigen kann. Die Gründe für ein Verhalten des Hundes wie beispielsweise Aggression, Angst, Trennungsangst, Stalken, hohe Stressanfälligkeit, Hyperaktivität und mangelnde Konzentrationsfähigkeit sind komplex. Oftmals wird jedoch bei einem ungehaltenen und übergriffigen Verhalten – besonders wenn es gegen den Menschen gerichtet ist – dem Hund unterstellt, dass er den Menschen nicht als „Boss“ akzeptieren würde. Oder ihm wird unterstellt, dass ihm nichts an menschlicher Nähe liege und er keine Bindung zu Menschen eingehen möchte.

Alle auf den Hund einwirkende Faktoren wie psychosoziale und materielle Lebensumstände sind zu berücksichtigen, ebenso wie seine individuellen Schutzmechanismen. Hieraus wird ersichtlich, welche verantwortungsvolle Aufgabe ein Hundehalter hat. Er hat in einer gewissenhaften Anamnese herauszufinden, was alles zur Entwicklung des ungehaltenen Verhaltens geführt hat. Hierzu gehören nicht nur die Krankengeschichte und das Aufdecken aktueller körperlicher Ursachen. Genauso wichtig ist es, das gesamte Umfeld, den Sozialverband und die psychischen Belastungen und Sorgen des Hundes in die Anamnese mit einzubeziehen und somit das Fundament für eine faire und erfolgreiche Einflussnahme zu legen.

Der Gang zum Tierarzt ist oftmals unumgänglich. Erkrankungen, die Einfluss auf das Verhalten haben können, sind beispielsweise:

  • Beeinträchtigung der Sinnesleistung
  • Beeinträchtigung der Atmung
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Zahnerkrankungen und -fehlstellungen
  • Irritationen der Haut
  • Schmerzen
  • Entzündungen
  • Störungen des Magen-Darm-Trakts
  • Hormonstörungen
  • Neurotransmitterstörungen

Erst wenn ein Hund mit Verhaltensbesonderheiten nicht pauschal verurteilt wird, sondern die Gründe für sein Verhalten erkannt werden, ist der Weg frei für eine faire, kompetente und effektive Beeinflussung seines Verhaltens und damit für den Aufbau einer sicheren Bindung. Die sichere Bindung ist der beste Schutz und das erstrebenswerte Ziel.

 

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Die verschiedenen Bindungsmuster

Die Eltern-Kind-Bindung mit ihren verschiedenen Bindungsmustern lässt sich meinen Erfahrungen nach auf Hunde übertragen. Hunde im Sozialverband mit ihren Menschen sind schutzbedürftig wie Kinder und bedürfen der Fürsorge und Achtsamkeit.

Anhaltspunkte für die Einschätzung des Bindungsmusters sind die Verhaltensweisen, die der Hund zeigt, wenn er von seiner Bezugsperson getrennt wird. Wie sehr sucht er grundsätzlich ihre Nähe? Was lässt er sich einfallen, diesen Kontakt nicht abbrechen zu lassen bzw. bei einer Trennung die Wiederkehr herbeizuführen? Aber auch das Gegenteil ist interessant: Liegt dem Hund scheinbar nichts an der Rückkehr seiner Bezugsperson, sodass er sie ignoriert oder sogar aktiv abwehrt?

 

Typ: sicher gebunden

Die sichere Bindung ist das anzustrebende Bindungsmuster. Je freundlicher und fürsorglicher der Umgang des Menschen mit seinem Hund ist, je mehr Wertschätzung und Achtung der Hund erfährt, umso höher wird sein Selbstwertgefühl, was zum Aufbau einer sicheren Bindung beiträgt. Der Schützling vertraut auch in Stress- und Angstsituationen auf den Rückhalt durch seine Bezugsperson, selbst wenn diese nicht greifbar ist. Diese Zuversicht entstammt der Feinfühligkeit seines Menschen, mit der prompt und angemessen auf die Befindlichkeiten und Nöte des Hundes reagiert wurde. Er vertraut auf die Fürsorge und darauf, dass er in schwierigen Momenten nicht im Stich gelassen wird, sondern dass ihm die Angst genommen wird und er emotional gestärkt wird. So kann er sich im Alltag den vielfältigen Konflikten stellen.

Dem Hund sind Erfolgserlebnisse zu ermöglichen und seine Selbstständigkeit ist zu fördern. So bekommt er Lust auf Herausforderungen und lernt seine Fähigkeiten und Möglichkeiten einzuschätzen. Er traut sich mehr zu, was seine Erkundungslust vergrößert, und das wiederum wirkt sich positiv auf seine Stressresistenz, Ausgeglichenheit und Sozialkompetenz aus.

Wird ein sicher gebundener Hund von seinem Menschen getrennt, so zeigt er sehr wohl, dass er die Trennung bemerkt und gern seinen Menschen bei sich hätte, ohne sich jedoch deswegen verzweifelt an ihn zu klammern und die Trennung vehement versuchen zu verhindern. Kehrt der Mensch zurück, so freut sich der Hund.

 

Typ: unsicher-vermeidend

Ist ein Hund „unsicher-vermeidend“ gebunden, so ist er in belastenden Situationen gehemmt, Schutz bei seinen Menschen zu suchen. Er hat die Erfahrung gemacht, dass dieser zwar verfügbar, aber nicht hilfreich ist und sogar unter Umständen die Situation noch erschwert.

Entfernt sich sein Mensch, so wird keine offensichtliche Trauer gezeigt, der Hund scheint unbeeindruckt zu sein. Die Wiederkehr seines Menschen wird sogar oftmals ignoriert!

Die unsicher-vermeidende Bindung kann entstehen, wenn auf die Nöte des Hundes nicht feinfühlig genug eingegangen wird, seine Befindlichkeiten nicht erkannt werden und ihm entsprechend wenig Rückhalt gegeben wird. Die körperliche Nähe ist eingeschränkt und erfolgt eher aus einer Notwendigkeit heraus. Auf keinen Fall darf nun der Rückschluss gezogen werden, dass eine Bindung umso besser ist, je mehr am Hund „gefummelt“ wird.

Dass auf den Hund in für ihn wichtigen Momenten nicht eingegangen wird, sehe ich oftmals bei den Hundebesitzern, die fürchten ansonsten die Angst ihres Hundes in belastenden Situationen zu bestätigen. Stattdessen ignorieren sie seine Not und glauben, ihm so dazu zu verhelfen, auf eigenen Beinen zu stehen. Leider bewirkt eine solche Reaktion auf die Sorgen des Hundes das genaue Gegenteil.

Zum anderen ist der reduzierte und abgewogene körperliche Kontakt auch bei den Hundebesitzern zu beobachten, die der falschen Einstellung aufgesessen sind, dass jegliche Initiative zur Kontaktaufnahme vom Menschen und nicht vom Hund auszugehen hat – der Hund würde angeblich sonst ranghoch anerkannt und der Manipulation und Abwertung des Menschen Tür und Tor geöffnet werden.

Wird der Hund immer wieder bei seiner Kontaktaufnahme und seinem Hilfegesuch von seinem Menschen zurückgewiesen, dann lernt er, dass er nicht mit Zuneigung und Hilfe rechnen kann, sondern dass er allein auf sich gestellt ist. Je häufiger er offene Ablehnung erfährt und er in seinem Wunsch nach Nähe enttäuscht wird, umso größer wird der psychosoziale Konflikt. Dieser gilt als der größte Stressor schlechthin.

 

Typ: unsicher-ambivalent

In einer unbekannten Gegend und Situation zeigt sich der Hund selbst in Anwesenheit seines Besitzers unsicher und gestresst und ist im Erkundungsverhalten gehemmt. Er kann sich nicht mit der Umgebung auseinandersetzen und sich mit ihr beschäftigen, da er permanent am Ausloten ist, ob er sich momentan auf seine Bezugsperson verlassen und mit ihrem Beistand rechnen kann. Eine Trennung möchte er unbedingt verhindern, sodass er deutliches Bindungsverhalten zeigt wie Winseln, Heulen, Bellen, Festhalten, Anklammern, Nachfolgen und Suchen. Die Trennung selbst verunsichert den Hund, er lässt sich nur schwer für etwas anderes begeistern und kann sich auf nichts anderes konzentrieren.

Kommt sein Mensch wieder zu ihm zurück, so zeigt er ambivalentes Verhalten: Er sucht den Kontakt und nimmt seinen Besitzer stark in Beschlag, wehrt ihn dabei möglicherweise auch ab. Dies irritiert auf den ersten Blick und führt leider dazu, dass der Hund als „falsch“, wenn nicht sogar als „unberechenbar“ bezeichnet wird.

Sowohl in der Intensität des Kontakts als auch bei der Abwehr gibt es unterschiedliche Ausprägungen. Unter Umständen springt der Hund in seinem Verhalten sogar von einer Variante in die andere und erscheint dadurch erst recht nicht vorhersehbar. Hängt sich der Hund an seinen Besitzer, so kann dies reichen von einem Nicht-mehr-von-der-Seite-Weichen bis hin zu einem wortwörtlichen „Hängen“, einem Umklammern, aber auch dazu, dass der Hund seinen Besitzer festhält, indem er seine Kleidung oder sogar den Arm oder die Hand ins Maul nimmt. Ein abwehrendes Verhalten kann sich bewegen zwischen lediglich einem Ignorieren bis hin zu einem übergriffigen, gefährlichen Verhalten.

Der Hund entwickelt einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil, wenn keine klare Linie erkennbar ist, wann er auf seine Bezugsperson zählen kann, da deren Feinfühligkeit je nach aktueller Befindlichkeit schwankt und für ihn daher nicht einschätzbar ist. Dieser soziale Konflikt birgt ein ungeheures Stresspotenzial, sodass das Bindungsverhalten permanent aktiviert ist. Das daraus resultierende Verhalten des Hundes wird oft fehlgedeutet mit „Er ist besitzergreifend“, „Er kontrolliert“, „Er maßregelt, dass er von seinem Menschen allein gelassen wurde“, und das Umklammern wird gern als angeblich „dominantes Aufreiten“ gesehen. Dies führt zu einer fatalen Fehleinschätzung: Der Hund wird als vermeintlich stark, unabhängig, selbstständig, als „dominant“ wahrgenommen.

 

Aufbau einer sicheren Bindung

Die H.A.L.T.-Methode hilft beim Aufbau einer sicheren Bindung und bildet damit das Fundament für eine gesunde körperliche, emotionale und soziale Entwicklung des Hundes: sei es, dass man einen Welpen ohne schlechte Erfahrungen vor sich hat oder einen Hund aus zweiter Hand mit schlechten Bindungserfahrungen übernimmt und korrigierende Bindungserfahrungen bereitgestellt werden müssen.

Im Folgenden werden einige Bindungsmittel vorgestellt. (… LESEPROBE – vollständiger Artikel in der SPF 27 – versandkostenfrei bestellen im Cadmos-Shop)

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