Jailhouse Dogs. Welpen im Strafvollzug

Von Sylke Schulte

 

Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Leben der jungen Hunde auf der Elbinsel Hahnöfersand nicht von dem vieler anderer deutscher Fellnasen: Sie begleiten ihre Frauchen zur Arbeit, tollen nachmittags mit ihnen auf der Wiese herum und auch nachts endet die gemeinsame Zeit nicht vor der Schlafzimmertür. Und doch sind diese Hunde etwas Besonderes, denn sie sind Teil eines in Deutschland noch einzigartigen Projekts zur Ausbildung von Blindenführhunden. Das „Schlafzimmer“ von Hund und Frauchen ist eine knapp zehn Quadratmeter große Zelle, strenge Bestimmungen regeln ihren Alltag, die Fenster sind vergittert und ein Spaziergang auf dem Deich der malerischen Insel ist nur unter Aufsicht erlaubt. Das Zuhause dieser Hunde ist eine Frauenvollzugsanstalt, in der bis zu 95 straffällig gewordene Frauen ihre Strafen im geschlossenen Vollzug absitzen. Hundeausbildung im Knast? Kann das funktionieren?

 

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Der Bedarf an Blindenführhunden wächst auch in Deutschland angesichts immer neuer Anforderungen an Mobilität und Flexibilität der (blinden) Menschen stetig. Doch die Ausbildung dieser speziellen Assistenzhunde ist teuer und zeitintensiv. In den USA stolperte Sozialpädagogin Manuela Maurer über das Projekt „Puppies Behind Bars“, bei dem Strafgefangene erste Schritte in der Ausbildung von Assistenzhunden übernehmen. „Ich war bisher in der Wohnungslosenarbeit aktiv gewesen, war aber immer auf der Suche nach neuen Themenfeldern“, erklärt Maurer die Motivation hinter dem ehrgeizigen Projekt. Sie gründete den Verein „Hundebande“ und setzte die Idee in die Tat um.

 

Besondere Bande

Das Konzept aus den USA musste natürlich auf deutsche Verhältnisse zugeschnitten werden – und das galt nicht nur für die hiesigen Gesetze und Gegebenheiten innerhalb des deutschen Vollzugssystems. Auch die Anforderungen, die an die Hunde gestellt werden, wurden verändert, da die Richtlinien aus den USA nicht eins zu eins übernommen werden konnten. So treten die jungen Hunde ihren „Haftaufenthalt“ hierzulande nicht wie in den USA bereits im Alter von neun Wochen an, sondern erst ab der sechzehnten Woche, um ihnen zuvor noch Gelegenheit zu geben, erste Eindrücke von der Welt außerhalb der Gefängnismauern zu sammeln und sich langsam an ihr zukünftiges neues Zuhause zu gewöhnen.

Angefangen hat alles mit den Labradoren Rose und Ronja und der Pudeldame Cleo, denn sie waren 2010 die vierbeinigen Pioniere, die im Rahmen des Projekts erstmalig „inhaftiert“ wurden. Im Vorfeld der ungewöhnlichen Patenschaften zwischen den Jailhouse Dogs und den potenziellen Paten hinter Gittern finden viele vorbereitende Informationsveranstaltungen sowie Gruppen- und Einzelgespräche statt. „Alle Beteiligten, und das gilt nicht nur für die Insassinnen, sondern natürlich auch für die Mitarbeiter des Vollzugsdienstes, sollen genau wissen, worauf sie sich einlassen, bevor sie diese Verantwortung übernehmen“, erklärt Maurer. Nach Auswertung der Fragebögen, die sich zum Beispiel mit Themen wie Hundeerfahrung befassen, sowie der Einzelgespräche wird jedem Hund ein Patenteam, bestehend aus zwei Inhaftierten, zugewiesen. Das Paarsystem soll dabei die bestmögliche Betreuung für den Hund gewährleisten, wobei die „Hauptpatin“ auch die Hauptbezugsperson für den Vierbeiner darstellt. Im nächsten Schritt lernen die Hunde im Zuge von Besuchen die Gefängnisumgebung kennen und Mensch und Tier haben die Gelegenheit, sich schon einmal zu „beschnuppern“, bevor die Hunde endgültig einziehen.

Im Strafvollzug begleiten die Hunde ihre Frauchen dann fast den ganzen Tag. Wenn es die Sicherheitsvorkehrungen erlauben, sind die Hunde auch bei der täglich zu verrichtenden Arbeit mit von der Partie und obwohl Mitarbeiter des Projekts bei Problemen jederzeit telefonisch erreichbar sind, liegt die Hauptverantwortung für die noch unbedarften Halbstarken bei ihren Patinnen.

Die Hunde verbleiben bis zur Vollendung ihres ersten Lebensjahrs im Strafvollzug, wobei von „Absitzen“ keine Rede sein kann: Während sie innerhalb der Gefängnismauern feste Strukturen, Grundgehorsam und Sozialisierung erfahren, wird ihnen – im Gegenteil zu ihren zweibeinigen Partnerinnen – auch mehrmals in der Woche Ausgang gewährt. Mitarbeiter des Projekts holen die Hunde regelmäßig an den Gefängnistoren ab und entführen sie in die Welt „draußen“, wo sie mit alltäglichen Dingen wie Straßenverkehr, Menschenmassen und anderen Situationen vertraut gemacht werden. So wird sowohl eine angstfreie Entwicklung als auch Abwechslung für die Hunde geboten. Dabei werden die Hunde ständig von ihrer späteren Blindenführhundausbilderin beobachtet und betreut. Maurer betont in diesem Zusammenhang: „Ohne unsere freiwilligen Helfer und Spenden könnten wir diese Arbeit nicht leisten. Wir müssen ohne öffentliche Gelder auskommen und somit sind wir auf unsere zahlreichen Helfer angewiesen.“ Nach Ablauf des Jahres werden die Hunde dann wieder in die Obhut der Ausbilderin gegeben und es beginnt die eigentliche Ausbildung zum Assistenzhund.

 

Der Faktor Hund

Das Feedback, so Maurer, sei bisher überwiegend positiv. Auch zuvor skeptische Mitarbeiter der Haftanstalt sehen, genau wie die Anstaltsleitung, den positiven Effekt, den die Hunde auf die Frauen ausüben. Von der liebevollen und engen Bindung zwischen Vier- und Zweibeinern hinter Gittern profitieren somit beide Seiten, denn der Hund ist für die teilnehmenden Frauen weit mehr als eine willkommene Abwechslung im Gefängnisalltag. „Hunde lieben bedingungslos und vorurteilsfrei“, erklärt Maurer. „Ihnen ist die Vergangenheit der Frauen egal und somit bieten sie eine unbezahlbare emotionale Stütze – ein Gefühl, das für viele der Inhaftierten eine völlig neue Erfahrung darstellt.“ Der therapeutische Nutzen der vierbeinigen Knastkollegen ist also nicht von der Hand zu weisen: Die Frauen übernehmen Verantwortung und stärken ihr Durchhaltevermögen. Durch die Hunde und das Paarsystem erwerben sie Kompetenzen auf grundlegenden Gebieten wie Kommunikationsfähigkeit, Aggressionsbewältigung, Empathieentwicklung und Vertrauensaufbau – Fähigkeiten, die ihnen bei der späteren Resozialisierung in die Gesellschaft enorme Vorteile bringen können.

„Viele Frauen motiviert auch der Gedanke, durch ihre Hilfe der Gesellschaft etwas zurückgeben zu können, und ihre Unterstützung bei der Ausbildung von Assistenzhunden macht sie stolz“, so Maurer über die positiven Erfahrungen der Projektteilnehmerinnen. Schon während ihrer „Grundausbildung“ helfen die späteren Blindenführhunde also ihren zweibeinigen Bezugspersonen, und auch sie nehmen viele positive Erfahrungen mit in die Welt, wenn sie ihre „große Pflegefamilie“ verlassen, denn eine positive Grundeinstellung zum Menschen sowie eine altersgerechte und angstfreie Entwicklung sind Grundpfeiler für eine spätere Ausbildung zum Assistenzhund. Und helfende Hände, Liebe und Zeit für die Hundeerziehung gibt es im Strafvollzug situationsbedingt mehr als genug.

 

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Zukunftsmusik

Nach der sehr erfolgreich verlaufenden Pilotphase läuft das Projekt „Hundebande“ mittlerweile nicht nur seit 2010 in Hahnöfersand, es wurde sogar ausgeweitet. Im Jahr 2014 kam ein zweiter Standort zur effizienten Aufzucht und Erziehung späterer Blindenführhunde hinzu: In einem Männerwohnheim für ehemalige Strafgefangene in Hamburg, in dem Männer nach ihrer Entlassung aus dem Vollzug zur Rehabilitation wohnen, zählt das Projekt zu einem der vielen therapeutischen Angebote für die ehemaligen Insassen. Maurer erzählt: „Die positiven Erfahrungen, die wir über die letzten Jahre in der JVA Hahnöfersand sammeln konnten, sehen wir in diesem neuen Projekt bestätigt. Die Männer kümmern sich rührend um die Hunde und beide Seiten profitieren enorm von dem engen Zusammenhalt.“ Der Vorteil des neuen Projekts liegt vor allem auch in der Freiheit der Teilnehmer. Diese können den Hunden nun selbst – unter Anleitung der Hundeerziehungsexperten – die Welt zeigen und sie mit vielen verschiedenen Situationen und Umgebungen vertraut machen. In diesem Jahr kommt noch ein weiterer Standort in einem anderen Bundesland hinzu, Näheres wird aber noch nicht verraten.

Hund und Mensch profitieren also wie so oft von dieser besonderen Zusammenarbeit, mit dem Ziel, das Leben sehbehinderter Menschen ebenfalls durch tierische Hilfe zu bereichern und zu erleichtern. Solange auch weiterhin das Wohl des Hundes in der Ausbildung an erster Stelle steht – bleibt nur zu wünschen, dass sich in Zukunft noch weitere staatliche Einrichtungen bereit erklären, Mensch und Tier auf diese Weise zusammenzubringen.

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Sylke Schulte…

… Jahrgang 1980, studierte Anglistik und Germanistik an der Universität Bremen und verband nach Ihrem Studium Ihre Leidenschaft für Tiere mit Ihrem Beruf. Als freie Journalistin arbeitet Sie seit 2007 für diverse Pferde- und Hundemagazine und möchte so einen Beitrag zum besseren Verständnis zwischen Mensch und Tier schaffen. Aufgewachsen mit Hunden und Pferden, interessiert sie sich für alle Aspekte rund um die Vierbeiner, wobei ihr besonders die Umsetzung einer möglichst artgerechten Haltung und Beschäftigung am Herzen liegt.

Weitere Infos: www.diesprachpraxis.de

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