„Intensivmedizin“ für Hunde?

Möglichkeiten der modernen Tiermedizin und ethische Überlegungen

+++ LESEPROBE aus der SPF 45 +++

Von Kerstin Piribauer

Ist „Intensivmedizin“ für Haustiere eine Garantie für ein lebenswertes Leben danach oder unzumutbar? Diese Frage ist neben Diskussionen rund um die Themen Impfen, Kastration und Ernährung ein Dauerbrenner in der oft hoch emotionalen Kommunikation zwischen Hundebesitzern. Zudem kommt die deutschsprachige Presselandschaft regelmäßig auf diese Thematik zurück. Hier wie dort werden therapeutische Ansätze ebenso wie die Motivation der Besitzer zumeist mehr oder weniger unreflektiert aufgegriffen. Man spricht von einem „schmerzvollen Siechtum“, dem Hunde ausgesetzt seien, von Tierbesitzern, „die nicht loslassen können“, von Tierärzten, „die daran verdienen, Therapien zu verkaufen“. „Spiegel Online“ titelt einen seit 2012 abrufbaren Beitrag noch immer unverkennbar provokant mit „Hunde, wollt ihr ewig leben?“, beleuchtet dabei vornehmlich die wirtschaftliche Seite und stellt die Potenziale der tiermedizinischen Orthopädie und der Onkologie zumindest tendenziell infrage. Leider wird der Begriff „Intensivmedizin“ dabei nicht einmal ansatzweise mit Inhalt gefüllt: Ist mit „Intensivmedizin“ die notwendige Erstversorgung von Schockpatienten in der Notaufnahme einer großen Tierklinik gemeint? Oder die Anästhesieüberwachung und perioperative Intensivbehandlung nach humanmedizinischem Vorbild? Sind die in der veterinärmedizinischen Onkologie etablierten und erfolgreich eingesetzten Optionen der Chemo- und Strahlentherapie sowie orthopädische Hilfsmittel und physiotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten wie beispielsweise die Unterwassertherapie oder Massagen „Intensivmedizin“?

Immer wieder fixieren sich Diskussionen über all diese therapeutischen Möglichkeiten auf das Thema Schmerz, sprechen vom vermeintlichen Elend der nach dem Standard der modernen Veterinärmedizin behandelten Tiere. Mit diesen medizinisch-wissenschaftlich unhaltbaren und an der klinischen Realität absolut vorbeigehenden Argumentationsversuchen scheint die heute insbesondere in den sozialen Medien weit verbreitete Auseinandersetzung mit diesem Thema ebenso hilflos wie unzeitgemäß. Dabei treten unzählige Fragen zutage, für die eigentlich nicht „Doktor Google“ oder „Professor Facebook“, sondern immer der Tierarzt des Vertrauens der erste Ansprechpartner sein sollte.

 

„Ein denkendes, fühlendes und sensibles Lebewesen …“

Ja, am Anfang stand der Wolf. Er ist der genetische Urvater und gemeinsame Vorfahre all unserer Haushunde – trotz ihrer unermesslichen Vielfalt in Aussehen und Verhalten. Aber nein, unsere Hunde sind deswegen keine Wölfe mehr! Immer mehr Wissenschaftler und Studien sprechen von einer unübersehbaren evolutionsbiologischen Annäherung des Hundes an den Menschen, die durchaus als Ergebnisse des engen Zusammenlebens über Jahrtausende hinweg interpretiert werden können. Hunde stellen nicht nur in der biologischen Nomenklatur als „Canis familiaris“ eine eigene Art dar, sondern haben sich im Laufe der Evolution auch genetisch an das Leben als Sozialpartner des Menschen angepasst. Nachgewiesene Veränderungen am Genom des Hundes im Vergleich zum Wolf und vergleichende kognitive Studien zeigen, wie sehr sich die Mensch-Hund-Beziehung genetisch und biologisch manifestiert hat. Dies ist ein wesentlicher Aspekt in der Definition unserer Beziehung zu unserem besten Freund auf vier Pfoten, denn namhafte Wissenschaftler im Bereich der Lebenswissenschaften und Kognitionsbiologie betrachten den Hund heute als Bindeglied zwischen Mensch und Tier. Unter diesem Gesichtspunkt ändert sich der Blickwinkel auf den Begriff der oft abwertend diskutierten „Vermenschlichung“ des Hundes. Diese hat sich den biologischen Gesetzen des Lebens folgend längst vollzogen und auch genetisch im Hund ihre Spuren hinterlassen. Die unterschiedlichsten Disziplinen der Lebenswissenschaften liefern nahezu täglich neue Belege für diese biologische Realität, die auch eine Neudefinition der ethischen Verantwortung impliziert – in der Ausbildung des Hundes, im Zuchtgeschehen und nicht zuletzt in der medizinischen Versorgung und Betreuung.

Auf der Suche nach Argumenten gegen den Einsatz moderner medizinischer Therapien bei Tieren macht es somit wenig Sinn, beständig auf frühere Zeiten zu verweisen. Dem Hund kommt dank des gesellschaftlichen Wandels in unserer Gegenwart eine veränderte Position im Familiengefüge zu. Das Tier wird heute als ein „denkendes, fühlendes und sensibles Lebewesen, das Partner des Menschen ist“ betrachtet, wie der Wiener Kognitionsbiologe Ludwig Huber betont.

 

Moderne Tiermedizin schützt Leben und Lebensqualität

Die Therapiemöglichkeiten der Tiermedizin gehen heute um ein Vielfaches über das hinaus, was vor zehn oder zwanzig Jahren denkbar gewesen wäre. Diese Chancen und Potenziale zu nutzen, gehört angesichts der Stellung, die unsere Hunde als Familienmitglieder an unserer Seite einnehmen, zu unserer Verantwortung ihrem Leben gegenüber. Daneben steht die ethische Verpflichtung, die Grenzen des Möglichen zu erkennen und zu akzeptieren und dem geliebten Wesen an unserer Seite ein würdiges Ende zu bereiten, wenn der Tag gekommen ist. Ebenso wichtig, wie Grenzen anzuerkennen, aber ist das Wissen, dass Grenzen nicht unverrückbar sind. Wo das Limit der medizinischen Möglichkeiten heute erreicht ist, öffnen sich morgen neue Wege mit neuen diagnostischen und therapeutischen Ansätzen – Visionen, die Grenzen verschieben … Die Zurückhaltung, mit der noch immer viele Hundebesitzer der modernen Tiermedizin begegnen, basiert zumeist auf Sorgen und Vorstellungen, die mit der Realität in großen und standardsetzenden Tierkliniken wenig gemeinsam haben.

Chancen und Risiken der modernen Tiermedizin sind viel diskutiert. Das größte Risiko aber besteht darin, die Chancen nicht zu nutzen!

 

Chemo- und Strahlentherapie sind neben der Chirurgie als unverzichtbare Bestandteile der tiermedizinischen Tumortherapie nicht mehr wegzudenken. Die regelmäßig postulierte ethische Problematik in diesem Zusammenhang betrifft bei genauer Betrachtung keineswegs die Therapieformen an sich, sondern weit eher die oftmals unsachliche oder überhaupt fehlende Aufklärung und Information der Tierbesitzer über die Möglichkeiten, die ihrem Freund auf vier Pfoten auch bei der Diagnose Krebs noch Lebenszeit bei bester Lebensqualität schenken könnten.

Eine adäquate Schmerztherapie ist nicht nur medizinisch möglich, sondern im Tierschutzgesetz explizit vorgeschrieben, und es kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Kliniken, die eine medizinische Betreuung nach dem aktuellen State of Art – je nach Definition also „Intensivmedizin“ – anbieten, auch mit Selbstverständlichkeit eine optimale Schmerztherapie durchführen. Dabei bekommt der Hund oft nicht nur ein Medikament, sondern verschiedene Schmerzmedikamente werden gleichzeitig eingesetzt. Wenn der behandelnde Tierarzt eine derartige Kombinationstherapie empfiehlt, ist das sicher kein Grund zur Sorge, dass er seine Medikamente verkaufen möchte, sondern jedes der eingesetzten Präparate folgt einem anderen Wirkungsmechanismus, um den Schmerz auszuschalten. Insgesamt kommt es so zu einer maximalen Schmerzlinderung bei gleichzeitiger Verringerung der Nebenwirkungen, denn die Dosis der einzelnen Medikamente und damit ihre spezifischen Nebenwirkungen können mit dieser Vorgehensweise oft deutlich reduziert werden. Eine konsequent durchdachte und effiziente Schmerztherapie kann einem Hund über Jahre hinweg problemlos ein schmerzfreies Leben schenken. Bei Problemen des Bewegungsapparats kann die Kombination mit physiotherapeutischen Anwendungen zudem oft zu einer Reduktion der Dosis der medikamentösen Therapie führen. Schmerzen zu beklagen und gleichzeitig wirkungsvolle Therapiemöglichkeiten wie Massagen oder Akupunktur beim Hund infrage zu stellen, zeugt also keineswegs von einem vertieften Verständnis der Zusammenhänge.

Ähnliches gilt für orthopädische Hilfsmittel: Ein „Rolli“ oder andere Gehhilfen sind wertvolle Möglichkeiten der Unterstützung und werden für behinderte Hunde zum ebenso alltäglichen wie selbstverständlichen Begleiter. Ein Rollwagen, der die Hinterläufe des Hundes stützt und bewegungstechnisch deren Aktivität ersetzt, kommt insbesondere dann zum Einsatz, wenn der Hund aufgrund einer Lähmung seine Hinterläufe nicht mehr einsetzen kann oder wenn ihm diese wegen eines Unfalls oder einer schwerwiegenden Erkrankung amputiert wurden. Auch diese Hunde haben nicht nur ein Recht auf Leben, sondern können dieses oft auch voller Aktivität und Lebensfreude genießen. Ein Rollwagen steht für Mobilität und Lebensfreude, für Abwechslung und Unternehmungslust! Hunde mit Handicap verdanken ihm unzählige Ausflüge in Wald und Flur – oder im gemeinsamen ER-LEBEN mit uns auch Momente stillen Glücks, die wir ohne diese Form der Unterstützung niemals gelebt hätten. Dabei können wir die Selbstverständlichkeit beobachten, mit der unsere Hunde sich mit ihren körperlichen Einschränkungen arrangieren und unsere Hilfe annehmen – und die Willensstärke, mit der sie bereit sind, dieses Leben mit uns zu leben … Auch wenn wir an der Akzeptanz derartiger Hilfsmittel im gesellschaftlichen Umfeld hier und da noch ein wenig arbeiten müssen, sollte diese Skepsis niemals ein Grund sein, unserem vierbeinigen Familienmitglied die eventuell notwendige Unterstützung zu versagen. Es liegt allein in unserer Verantwortung, wie wir unserem Hund die Lebensqualität sichern. Entscheidend ist diese Lebensqualität unseres Hundes, nicht die Meinung unseres Nachbarn!

Sind moderne Anästhesie- und Überwachungstechniken „Intensivmedizin“, auf die wir verzichten möchten? Sicher nicht, bieten sie doch heute auch in der Tiermedizin größtmögliche Sicherheit und können das Narkoserisiko entscheidend verringern. Eine optimale Vorbereitung des Hundes mit entsprechenden Voruntersuchungen, insbesondere in Bezug auf die Herz- und Nierenfunktion, tragen ebenso zu einer erheblichen Verringerung von Narkosezwischenfällen bei wie eine durchgehende Überwachung während der Narkose. Dazu gehören die permanente Herzfrequenzmessung mithilfe eines EKGs, eine Pulsoxymetrie, mit der die Sauerstoffsättigung des Blutes überprüft wird, Blutdruckmessungen und die Überwachung der Atemfrequenz. Eine Dauerinfusion für den Patienten ist im Idealfall ebenso selbstverständlich wie die Intubation, die die Atemwege sichert und ein beständiges Sauerstoffangebot ermöglicht. Viele Tierärzte und Kliniken arbeiten heute bereits standardmäßig mit einer schonenden Inhalationsanästhesie.

All diese optimalen und am neuesten medizinischen Wissensstand orientierten Therapien und Vorgehensweisen schützen das Leben des Patienten. Im Idealfall kann die Erkrankung geheilt werden, sicher aber kann über einen längeren Zeitraum hinweg eine optimale Lebensqualität erhalten bleiben. Dabei ist die prognostizierte Überlebenszeit durchaus relativ zu betrachten. Ein Jahr mag gemessen am menschlichen Lebenszyklus wenig erscheinen, für den Hund hingegen bedeutet ein Jahr eine lange Zeit – Leben, das gelebt werden kann und will! Therapie schützt Leben und ist damit in letzter Konsequenz aktiver Tierschutz!

 

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