Selbstwirksamkeit im Hundealltag
Dr. Janey May
+++ LESEPROBE aus der SPF 41 +++
Was ist Selbstwirksamkeit?
Unter Selbstwirksamkeit, bzw. der Selbstwirksamkeitserwartung, versteht man die Überzeugung einer Person, „aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen erfolgreich selbst ausführen zu können“ (Wikipedia). Der Begriff Selbstwirksamkeitserwartung wurde 1977 vom Psychologen Albert Bandura geprägt. Bandura zeigte in Studien, dass Menschen Handlungen überhaupt nur dann beginnen, wenn sie überzeugt sind, diese Handlungen auch erfolgreich meistern zu können. Dies nannte er Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Das unterschiedliche Maß der Selbstwirksamkeitsüberzeugung ist der Ausschlag, ob und wie ausdauernd sich in eine Tätigkeit hineingekniet wird. Trotz kleinerer Misserfolge innerhalb dieses Prozesses weiterzumachen, zeugt von einem hohen Maß an Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Misserfolge werden weniger auf sich persönlich bezogen, vielmehr als Ansporn gesehen, es weiter und/oder anders zu versuchen. Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit hängen eng miteinander zusammen. Er konnte auch zeigen: Je höher das Maß an Selbstwirksamkeitsüberzeugung ist, je höher sind auch die gesteckten Ziele.
Selbstwirksamkeit, Kontrolle und Wahlmöglichkeit
„You have brains in your head,
You have feet in your shoes,
You can steer yourself in any direction you choose.“
Theodor Seuss Geisel
Frei übersetzt: „Du hast Gehirnzellen im Kopf, du hast Füße in den Schuhen, du kannst dich in jede Richtung steuern, die du wählst.“ Dieses Zitat zeigt, wer Hirn und Füße hat, kann nicht nur wählen und kontrollieren, sondern möchte es auch. Wir alle möchten unsere eigenen Entscheider sein. Der Glaube, Kontrolle über die eigene Umwelt und damit verbunden persönlich angestrebte Ergebnisse zu erzielen oder unerwünschte Ergebnisse zu vermeiden, ist psychologische und biologische Notwendigkeit und von wesentlicher Bedeutung für das Wohlbefinden. Erst über Handlungsoptionen, das Wählen und Ausprobierenkönnen, bilden sich eigene Präferenzen heraus. Jede noch so kleine Wahlmöglichkeit gibt das Gefühl von Kontrolle und damit Selbstwirksamkeit. In diesem Zusammenhang hat Julian Rotter 1966 den „Locus of Control“ vorgestellt; er zeigte auf, dass es persönlich kontrollierbare Lebensereignisse gibt und solche, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen. Natürlich werden Entscheidungen von Umwelteinfaktoren beeinflusst und sind somit auch von der jeweiligen Umwelt abhängig; diese Beeinflussung wird jedoch nicht als Einschränkung wahrgenommen, denn man hat Wahloptionen.
Autonomie und Selbstbestimmung sind grundlegende psychologische Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse werden vehement und deutlich verteidigt und sind zumeist genau die Situationen, wo Menschenbedürfnis und diese Grundbedürfnisse des neuen Welpen oder Hundes in der eigenen Familie aufeinanderprallen. Es gibt Studien, die belegen, dass Handlungsoptionen, also die Wahl zu haben, extrem selbstbelohnend sind und immer vorgezogen werden, auch wenn das Ergebnis an sich keine Verbesserung oder Belohnung erzielt.
Selbstwirksamkeit im Tierreich
Betrachten wir uns das Leben von Zootieren, wird nach den vorangegangenen Erklärungen klar, dass es ihnen massiv an Selbstwirksamkeit, also Kontrolle und Handlungsoptionen, in ihrer künstlichen Umwelt fehlt. Psychische und physische Erkrankungen sind keine Seltenheit und belegen damit, dass das Bedürfnis nach Kontrolle ureigen und notwendig ist, weshalb es in vielen Zoos Beschäftigung oder sogenanntes Enrichment gibt. Auch das Angebot eines weiteren Geheges zeigt Stressreduktion, da es Handlungsoptionen bietet. Alternativverhalten können den Zustand von erlernter Hilflosigkeit verhindern. Futterbeschäftigungen zum Beispiel führen zu gelebter Selbstwirksamkeit. Die Tiere müssen sich das Futter erarbeiten, es müssen eigene Erfolgsstrategien entwickelt werden. Außerdem wird bei medizinischen Eingriffen in gut geführten Einrichtungen über Kooperationstraining/Medical Training gearbeitet. Die Tiere können zeigen, wann sie bereit für körperliche Eingriffe sind und auch wann sie eine Pause brauchen. Das Mitspracherecht gibt das Gefühl von Kontrolle.
Sehr viele Katzen leben in ihren Familien genau das gegenteilige Leben zu Zootieren. Sie kommen und gehen, wann sie möchten, sie machen auf ihre Bedürfnisse lautstark aufmerksam. Wenn ihre Bedürfnisse an diesem Ort nicht ausreichend erfüllt werden, zeigen Katzen dies sehr deutlich durch offensive Aggressionen, Unsauberkeitsprobleme oder suchen sich kurzerhand neue Menschen in der Nachbarschaft.
Selbstwirksamkeit und Hunde
Betrachten wir das Hundeleben in der menschlichen Welt, wird klar, dass wir Hundemenschen (mehr oder weniger alle) unsere Hunde in ihrer Selbstwirksamkeit und ihren Handlungsoptionen ein- oder beschränken. In der aversiven, klassischen Erziehung ist eigenständiges Denken des Hundes meist nicht gewollt oder sogar ganz verboten. Überspitzt könnte man unser gemeinsames Leben wie folgt zusammenfassen:
Das gemeinsame Leben von Hund und Mensch beginnt damit, dass der Mensch sich den Hund aussucht, der fortan in dieser Zwangs-WG leben muss; der Hund hat weder Wahl noch Kontrolle über sein neues Zuhause. Oftmals tatsächlich noch mit hündischen Mitbewohnern innerhalb eines Haushalts, ohne bestimmen zu können, wer diese sind.
Der Mensch bestimmt, wann, was und wie viel gefressen wird, wo, wann und wie lange spazieren gegangen wird und sogar, wo Kot- und Urinabsatz erlaubt sind. Wir bestimmen aber auch, wann, mit wem und wie lange sich unsere Hunde mit einem ihrer Freunde treffen dürfen. Viele Hunde bekommen keine Wahlmöglichkeit bezüglich ihres Trainings und fungieren oftmals als Sportgeräte. Wir haben Halsbänder, Geschirr und Leine erfunden. Schließen die Haustür ab und ziehen Zäune um unser Grundstück. Bei Hunden, die über soziales Lernen gelernt haben, die Haustür zu öffnen, wird kurzerhand die Klinke oder der Schlüssel umgedreht.
Im menschlichen Alltag sollte der Hund im besten Fall durch sich lohnende Signale zu Verhaltensweisen gebracht werden, die für uns (!) und die Umwelt passend sind; leider geschieht das noch immer viel zu oft durch Druck, Angst, körperliches Zutun und ohne wirkliche Handlungsoptionen. Aus menschlicher Perspektive wären schwere Depressionen die Folge, und genau das zeigen die Studien auch bei Hunden. Wir haben eine ernst zu nehmende Aufgabe als Hundeeltern, natürlich gehört hier auch die Gefahrenabwehr dazu; dafür braucht es sauber und fair antrainierte Verhaltensweisen, die durch unser menschliches Leben manövrieren. Jedoch sollte hierbei niemals die Persönlichkeit des individuellen Hundes und ausgleichende Strategien für unsere Lebensform vergessen werden.
Der extreme Wunsch nach Sicherheit des Halters, um Kontrollverluste zu umgehen, verleitet oftmals dazu, an sich positiv aufgebaute Verhaltensweisen über aversive Handlungen abzusichern. Wir sollten unser Sicherheitsbedürfnis allerdings nicht auf Kosten des Wohlergehens unserer Hunde erfüllen.
Selbstwirksames Handeln zu fördern und unsere Hunde als hoch soziale Lebewesen zu sehen ist zum Glück kein Neuland mehr, allerdings noch nicht täglicher Umgang für alle Hunde und im Bewusstsein aller Hundeeltern.
Selbstwirksamkeit in den Alltag einbauen
Der Kern dabei ist, dem Hund Wahlmöglichkeiten, also Handlungsoptionen, zu bieten. Dies ist in vielerlei Hinsicht ohne große Energieaufwendung in unserem menschlichen Alltag möglich.
- Wahlmöglichkeiten im Alltag
Belohnungen selbst wählen dürfen. Sowohl Futter- wie auch Spielbelohnungen oder Kauartikel können ausgewählt werden. Hier braucht es keine Vorarbeit, es kann, wenn gewollt, jede Wahlsituation angekündigt werden. Was es braucht, ist die Bereitschaft des Hundemenschen, den Hund auswählen zu lassen. Man gibt dem eigenen Hund hierdurch nicht die Weltherrschaft in die Hand, er sollte eh belohnt werden, warum also nicht auch selbst bestimmen können, was gerade für ihn persönlich die passendste Belohnung ist? Auch der Test, welches Ranking verschiedene Futterbelohnungen haben, ist sehr aufschlussreich und hilft uns beim späteren Training mit der Top-10-Rankingliste der Futterbelohnungen. Benennen wir Futterbelohnungen noch oder beleben sie über gekegeltes oder geworfenes Futter, schaffen wir wiederum die Möglichkeit der direkten Kommunikation. Der Hund kann zeigen, ob er daran gerade Interesse hat oder nicht.
- Die Top-20-Liste der Verhaltensweisen
Welche Verhaltensweisen liebt Ihr Hund? Wer diese Liste kennt und in aller Ruhe für seinen Hund angelegt hat, der kennt die besten Verstärker für späteres Training. Wichtig ist, wirklich alle Verhaltensweisen aufzuschreiben, die selbstbelohnenden und eventuell auch die vom Menschen ungewollten Verhaltensweisen. Diese Liste lohnt sich deshalb so sehr, weil funktionale Verstärker sehr potent sind und wir uns zudem die Frustrationslast unserer Hunde im Alltag bewusst machen und sie verändern können. Wir können sie kategorisieren: Welches Verhalten findet mit dem Besitzer statt, welches nur an bestimmten Orten, welches nur bei bestimmten Erregungslagen? Durch diese Liste lernen wir unseren Hund kennen und können unseren gemeinsamen Alltag leicht verändern, ohne Verbote aussprechen zu müssen. Es reicht, an bestimmte Orte nicht mehr mit dem Hund zu gehen, und wir minimieren hierdurch die Frustrationslast. Außerdem wird durch das Benennen passender Verhaltensweisen eine Umweltbelohnung geschaffen.
- Trainingsbeginn, Pausen und Ende bestimmen
Ein Trainingstarget, das anzeigt: „Ich habe jetzt Lust/bin nun bereit, mit dir zu trainieren“, ist Kontrolle über eine Situation, wo wir Hundemenschen uns doch hoch motivierte Mitarbeiter wünschen. Eine perfekte Ausgangssituation dafür. Auch Pausen oder das Ende können so angezeigt werden, wenn der Hund das Trainingstarget/den Trainingsbereich verlässt oder ein Ende-/Exittarget betritt. Dies sollte nicht nur akzeptiert, sondern auch honoriert werden. So wird der oft erwähnte Vorwurf: „Der Hund trainiert doch nur wegen des Futters mit dir“, gleich mit beseitigt.
- Kooperationssignal
Ähnlich funktioniert das Kooperationssignal, das auch beim Medical Training oder grundsätzlich bei Handlungen am Hundekörper eingesetzt wird. Der Hund kann zum Beispiel in einer speziell dafür aufgebauten Targetposition verweilen, so können Eingriffe oder Behandlungen kleinschrittig geübt werden und der Hund kann für ihn nötige Pausen anzeigen (wie wir es persönlich beim Zahnarzt doch auch können), ebenso wann und ob er bereit für Eingriffe ist. Außerdem können spezielle Ankündigungen für Berührungen oder Behandlungen aufgebaut werden. Dieses Training sollte sehr früh begonnen werden, da ein einmaliges negatives Erlebnis beim Tierarzt oftmals schon ausreicht, um das Training zu erschweren.
- Spielsignale ermöglichen Kommunikation
Lassen wir unseren Hunden die Wahl, mit welchem Spielzeug sie spielen, wie sie das tun und wie lange sie das möchten, erhöht sich nicht nur die Selbstwirksamkeit im Alltag, sondern wir lernen unseren Hund besser kennen. Wir erschaffen eine für den Menschen deutlich erkennbare Sprachebene und das Sozialspiel kommt so auf eine neue Ebene.
- Clicker-/Markertraining
Dogdance, Tricktraining, Shaping: All diese Trainings geben dem Hund völlige Kontrolle und Wahlmöglichkeiten. Für den Menschen „falsche“ Handlungen werden eben nicht geclickt. Es gibt kein Risiko für den Hund. Ausprobieren, Handlungen anbieten, selbst denken dürfen, hier wird alles vereint, worum die Ausführungen zu Beginn des Artikels gehen. Auch im Alltag sollte gehandelt werden, wie in einer Clickertrainingseinheit. Nicht warten, bis der Hund ungewolltes Verhalten zeigt, sondern den Moment davor abpassen, wenn der Hund eben noch für den Menschen passendes Verhalten zeigt. Außerdem macht es lerntheoretisch einen großen Unterschied, ob angebotenes Verhalten eingefangen wird oder abgefragtes Verhalten verstärkt wird. Das angebotene Verhalten beruht auf der eigenen Entscheidung und ist somit höherwertig.
- Die Ja-Umgebung
Die Ja-Umgebung kann für einen Welpen ein positiver Start in seine Familie sein. Bewegt sich ein Hund in einer für ihn passend vorbereiteten Umwelt und erfährt beim Erkunden keine Eingrenzung durch seinen Menschen, kann er selbstwirksam handeln und faktisch nur gute und vor allem eigenständige Entscheidungen treffen, die dann im späteren Leben häufiger gezeigt werden, zur Gewohnheit werden. Gefahren und Dinge, die dem Menschen wichtig sind, sollten bedacht werden, Raumrestriktion ist hierbei immer hilfreich. Auf Spaziergängen kann ein passender Ort, an dem wenig Auslöser und Umweltreize anzutreffen sind, hilfreich sein. Besonders geeignet sind stationäre Spaziergänge, bei denen der Hund an einer Schleppleine gesichert werden sollte. In dieser Umgebung muss sich sinnvolle und zum Hund passende Hundebeschäftigung finden. Der Hund zeigt selbstwirksames Handeln und Beschäftigung, auf die er immer wieder zurückgreifen wird. Die so erschaffenen Gewohnheiten sind zudem genau das, was wir Hundemenschen uns wünschen.
- Das Pausewort
Dieses Wort erschafft einen wunderbaren Raum für selbstständiges Handeln. Es wird als Ankündigung genutzt, um dem Hund zu signalisieren, dass er Zeit für Selbstbeschäftigung ohne Reizteilung hat, da der Mensch nun keine Anforderungen mehr an den Hund hat. Pause bedeutet nicht: Geh schlafen oder dich langweilen, es bedeutet nur: Du hast nun Zeit für deine Dinge, ich habe keine Anforderungen an dich. Sehr arbeitsfreudige Hunde erfahren dadurch in der Umwelt meist eine Erleichterung, da sie nicht mehr reizgeteilt auf Empfang zum Besitzer gestellt sein müssen. Die Aufmerksamkeit kann voll und ganz den Hobbys gewidmet werden. Auch hier braucht es wieder einen für die menschliche Umwelt passenden Handlungsrahmen über eine Schleppleine, Raumrestriktion oder passend gewählte Räume oder Gebiete. Hat der Hund kein Interesse an der Umwelt und möchte lieber Zeit mit dem Menschen verbringen, ist das selbstgewählt und zeigt das momentane Bedürfnis des Hundes.
- Hundesprache, Sprache die verstanden wird
Wenn Sprache verstanden und somit zum wirksamen Mittel wird, erlangt man Kontrolle über Situationen. Man kann sich ausdrücken, weiß, wie man Dinge und Situationen verändern und für sich selbst verbessern kann. Wie es sich anfühlt, wenn man direkt, ohne weitere Erklärungen verstanden wird, kennen wir alle und können wir sehr gut nachfühlen. Die Eskalationsleiter (beim Hund auch als Leiter der Aggression bezeichnet) nach oben zu gehen, signalisiert im Umkehrschluss nur, dass Kommunikation nicht ankommt, keine Wirkung zeigt. Das frustriert und führt zur nächsten Eskalationsstufe. Was sich wiederum weder selbstwirksam noch nach Kontrolle anfühlt, auch diese Situationen kennen wir Menschen aus dem eigenen Leben sehr gut. Deshalb sollten wir uns bemühen, unsere eigenen Hunde zu verstehen, lesen zu können oder mit oben aufgezeigten Mitteln eine gemeinsame Sprachebene zu erschaffen.
Wie wichtig selbstwirksames Handeln und Wahlmöglichkeiten am Ende sind, zeigen starre Trainingspläne bei Kunden. Bekommen Hundehalter keinen Handlungsrahmen, in dem sie sich mehr oder weniger frei bewegen und selbstwirksam handeln können, ist jegliches noch so fundiert aufgebautes Training meist zum Scheitern verurteilt. Wir alle brauchen Selbstwirksamkeit, also Wahlmöglichkeiten, Handlungsalternativen, die uns Kontrolle über die Situation fühlen lassen, um uns wohlzufühlen.
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